Willkommen im Garten
Prof. Dr. Kai Uwe Schierz

Frank Darius hat eine Gruppe von Fotografien unter einer Begrüßungsformel zusammengefasst, einer Einladung, der man als Betrachter nur allzu gern nachkommt. Wer von uns möchte nicht in einem Garten weilen oder doch wenigstens Einsicht nehmen in das, was individuelles Geschick oder die gärtnerische Kunst verschiedener Jahrhunderte an grünen Gestalten hervorbrachte? Tatsächlich präsentieren uns diese Fotografien verschiedene Perspektiven auf das Übergangsfeld zwischen Natur und Kultur, wie es sich in Parks, Grünflächen, Gärten, im grünen Umfeld von Eigenheimen, der Bepflanzung von Bebauungsrändern, in Zimmerpflanzen und Schnittblumen darbietet. Man muss sagen: wie es sich uns üblicherweise darbietet, denn wir nehmen das in den Bildern Gezeigte als ein Vertrautes wahr, als ein Umfeld, das unserem Erfahrungs- und Erwartungshorizont entspricht, wenn wir an „Garten“ denken. Es gibt eigentlich nichts Exotisches, das unser Interesse zusätzlich locken würde. Dennoch: So alltäglich die fotografischen Blickwinkel auch sein mögen, wir spüren doch, wie präzise die gezeigten Szenen beobachtet wurden, wie z.B. der Fokus auf einen kleinen Schärfebereich gerichtet wurde, während sich Vorder- und Hintergrund durch die fotografische Unschärfe unserer Aufmerksamkeit tendenziell entziehen.

Oft genug hat Frank Darius das besagte Übergangsfeld zwischen dem Natürlichen und dem Künstlichen, zwischen dem wuchernd Wachsenden und dem planmäßig Gebauten zum Thema gemacht, wie es für Gartenkulturen typisch ist. Dabei steht das Menschengemachte für Ordnung, sinnbildlich erscheinend in der Form von Architektur und Design, und das das Natürliche für das Kontingente, das Zufällige und Chaotische, aber auch das sich fortwährend Bewegende, das Werdende und Vergehende. Einmal auf diese Spur gesetzt, finden sich zahlreiche Details, die das Naturverhältnis des Menschen thematisieren – und woran ließe es sich besser demonstrieren als am Garten?

Frank Darius hat die Werkgruppe „Willkommen im Garten“ zuerst in Buchform zusammengefasst. Die in Erfurt nun zu sehenden Bilder repräsentieren eine Auswahl dieser Auswahl. Im Buch wie auch in der Ausstellung findet sich ein Zitat des tschechischen Medienphilosophen Vilém Flusser, das uns Betrachtern und Lesern eine weitere Bedeutungsebene des Garten-Begriffs vermittelt: der Garten als paradiesische Erscheinungsform von Natur. Ob nun der „Garten Eden“ der Bibel oder das altpersische „pairi.daêza“ – von Beginn an bestimmend war die Vorstellung von einem umzäunten Bereich, einem Wildpark oder Ziergarten, der die Natur in ihren fruchtbaren Aspekten auf das Glücksideal des Menschen bezog. Diesem Garten fehlt es an nichts, alles steht allen unbegrenzt zur Verfügung; er bezeichnet also einen Ort, an dem „Milch und Honig fließen“ – um eine Formel zu gebrauchen, in welcher das Alte Testament das den Israeliten von Gott verheißene Land werbewirksam umschreibt. Bei Flusser klingt der Zusammenhang von Garten und Paradies so:
„Historisch gesehen ist also der Garten ein von zahlreichen Ausgangspunkten, genannt ‚Wirklichkeiten‘, aus unternommener Versuch, die Natur, wie sie ist, so zu verwandeln, dass sie sei, was sie sein soll, genannt: ‚Verwirklichung der Werte‘. Der Garten als ein Ziel der Geschichte, und zwar als ein Ziel, wohin alle Kulturen konvergieren. ‚Utopie‘ hieße dann unter anderem auch: allumfassender Garten. Und dies wäre keine üble Interpretation des Ausdrucks ‚Paradies auf Erden‘, denn was ist ‚Paradies‘, wenn nicht eine mythische Extrapolation des Gartenideals vom Ende auf den Anfang der Geschichte?“

Hier wird „Garten“ also als Paradiesmetapher und als eschatologisches Ziel der menschlichen Kultur gedeutet, als letztendlicher Ausgleich der in aller Kultur geronnenen menschlichen Interessen mit den evolutionären Bewegungen der Natur, Paradies auf Erden.

Haben wir es nicht alle – als Individuen wie als Gruppen und Gesellschaften – auf einen solchen Ausgleich abgesehen? Das Flusser-Zitat verbindet also menschliche Glücksansprüche oder Heilserwartungen, je nachdem, mit dem Erlebnis bzw. der Vorstellung vom Garten – und stellt es die Realisierung dieser Vorstellung zugleich in Frage. Egal, hier in der Ausstellung verbindet es unser Denken des Begriffs „Garten“ mit übergeordneten Ideen, seien sie philosophischer oder sozialutopischer Natur, und versieht unser Schauen mit einem bestimmten Sinn, einer bestimmten Perspektive. Wenn wir die Fotografien von Frank Darius nach der Lektüre des Zitats einer erneuten Betrachtung unterziehen, schwingen diese Ideen mit: der Garten als landschaftliches Zeichen für den erwünschten Ausgleich von Mensch und Natur, für die Realisierung menschlicher Glücksbedürfnisse.

Philosophen wie Jean-Jacques Rousseau und Künstler wie die Romantiker des 19. Jahrhunderts thematisierten das Verhältnis von Natur und Kultur als ein unheilbar widersprüchliches und gestörtes. Nur die Natur galt als rein und ursprünglich, die zeitgenössischen Formen des Kulturellen dagegen, ihre Rituale und Konventionen, als künstlich im Sinne von widernatürlich, als Verunreinigung der reinen Quellen des Natürlichen. Diese Auffassungen prägen das Naturbild des modernen Menschen bis heute, auch die Idealisierung des Natürlichen in den Formen des Gartens. Gelegentliche Erfahrungen von Natur als Naturgewalt und Naturkatastrophe haben dieses Naturideal des naturfernen Menschen nicht nachhaltig erschüttern können. Im Garten tritt uns die Natur als ein Ideal entgegen, man kann auch sagen: als Idee. Garten heißt: befriedete Natur, gezähmte Natur, Natur in maßvollen Portionen, wie sie dem menschlichen Ordnungssinn entsprechen, Natur, für den Menschen und seine Zwecke passend gemacht, oder – in den Worten Flussers: Garten als Form der Verwirklichung menschlicher Werte. Untersuchen wir unter diesem Blickwinkel die Fotografien von Frank Darius, seine Gärten, werden wir vielfach und vielfältig fündig.

So wie das Alte Testament die paradiesische Versöhnung von Mensch und Natur durch das Wirken der menschlichen Vernunft beendet, was schließlich und unweigerlich zur Vertreibung aus dem Garten Eden führen muss, so bricht auch Frank Darius das angesprochene Naturideal mit einem weiteren Zitat in der Ausstellung. Er zitiert Rainer Maria Rilke aus dessen „Sonetten an Orpheus“ mit der Wendung:
„Wir wurden dort entlassen, wo wir meinten, erst begrüßt zu sein.“

Der Bezug zur Austreibung des Menschen aus dem Garten Eden, zumal in der räumlichen Nähe zu dem Flusser-Zitat, ist evident. Doch Rilke hat das biblische Thema der Verbannung aus dem Paradies variiert. Der Vernunftgebrauch, symbolisiert durch das Verspeisen der Frucht vom Baum der Erkenntnis, gilt Rilke nicht als Schuld, als Erbschuld, die zur Austreibung führt, vielmehr generiert sie für ihn die menschliche Fähigkeit, in Freiheit zu denken und zu agieren. Und so lautet das Rilke-Zitat in leicht erweiterter Form:
„Wir sind frei. Wir wurden dort entlassen, wo wir meinten, erst begrüßt zu sein.“
Frei ist nicht nur der moderne, der aufgeklärte Mensch, der sich, seinen Verstand gebrauchend, aus selbstverschuldeter Unmündigkeit erhebt. Frei ist der moderne Mensch auch in metaphysischer Hinsicht – „bang“ lässt ihn Rilke in seinem Sonett „nach einem Halte“ verlangen. Freiheit bedeutet eben auch zu realisieren, dass wir für den Sinn unseres Daseins selbst verantwortlich sind. Das betrifft den Sinn unserer Beziehungen zur Natur ebenso wie unsere Freiheit als Konsumenten, auf den Märkten unseren individuellen Bedürfnissen und Möglichkeiten gemäß zu wählen.

Ich erwähne letzteres nicht, weil uns der letzte Dioxinskandal noch ganz gegenwärtig ist, sondern weil Frank Darius den Titel zu seiner Werkgruppe einem Discounter-Prospekt entnommen hat: Dort wurde unter der Überschrift „Willkommen im Garten“ für den Kauf preisreduzierter Biergartenmöbel geworben. Welch eine Einladung ins irdische Paradies.

Frank Darius hätte einen philosophisch-lebenspraktischen Essay verfassen können, um uns in das weite Feld der Garten-Metaphorik einzuführen. Er zieht es jedoch vor zu fotografieren. Mit dem Titel der Ausstellung und den aufgeführten Zitaten hat er uns jedoch Hinweise gegeben, aus welcher Richtung sich das Lesen und Verstehen-wollen seiner Bilder am ehesten lohnen könnte. Tatsächlich ist sein Blick auf die Mensch-Natur-Beziehung zwar beeinflusst von gewissen Vorbildern aus dem Zeitalter der Romantik, doch alles andere als romantisch im landläufigen Sinne. Seine Bilder zeigen Situationen, die unserer Erfahrungswirklichkeit entsprechen – in all ihren Facetten. Doch seine Perspektive, man könnte auch sagen: sein Erkenntnisinteresse, zeigt uns das Alltägliche und konkret Erlebbare in der Form des Besonderen. Zu einem Besonderen wird es als Bild, als ästhetisches Konstrukt, das die mehr oder weniger zufällige Form einer Beobachtung in ein schlüssiges Verhältnis von Komposition, Raum und Farbe übersetzt und sich auf diese Weise in den langen Strom von Bildern der Kunstgeschichte einreiht, die mehr bedeuten, als sie auf den ersten Blick zeigen. Zu einem Besonderen wird das jeweils konkret Beobachtete auch im Vergleich mit den anderen Bildern der Werkgruppe, mit Motiven und Bildformen, die ähnlich wirken oder verschieden, jedoch als Ganzes eine bestimmte Haltung offenbaren, eine Perspektive auf das Thema, eine Grundstimmung, hinter der wir die Person des Autors, des Künstlers vermuten. Dieses besondere Zueinander der Bilder, die einander erhellen können, zum Sprechen bringen, mitunter aber auch in Frage stellen, findet sich im Buch ebenso wie in der Auswahl, die Frank Darius für unsere Ausstellung getroffen hat.

Was ist natürlich, was künstlich – und lässt sich das überhaupt noch kategorisch trennen? Gibt es das Naturschöne – oder ist das alles eine Projektion des Menschen, welcher allein in der Lage ist, die Welt mit Bedeutung auszustatten? Repräsentieren die Zyklen der Naturbewegung das ewig Gleiche oder das immer wieder Neue? Ist das Erlebnis des Momentanen, des Vorübergehenden wirklicher als die Empfindung von Dauer und Beständigkeit? Bis zu welchem Grad sind unsere Wünsche nach Einklang und Verbundenheit zwischen Natur und Mensch, Mensch und Mensch legitim, ab welchem Punkt sind sie illusionär, Teil einer Vermarktungsstrategie oder Kitsch? Und ist das Paradiesische mehr als eine unwahrscheinliche Vorstellung, ein Idealbild, im besten Falle eine Utopie? Das alles sind Fragen, die sich bei der Betrachtung der fotografischen Bilder von Frank Darius einstellen können – Bilder, die zeigen, was jeweils zu Sehen möglich ist, die in diesem Sinne nichts hinzufügen oder weglassen, stets aber doch mehr offenbaren als zu sehen ist. Z. B. einen „Klang im Augenblick“ oder „das Summen des Ganzen“, wie Peter Grosshauser in einem Text formuliert hat. Und weiter schrieb er: „Es ist ein bewunderndes, oft auch verwundertes Entdecken, das Darius mit seiner Kamera aufzeichnet. Ohne das Gesehene Einzufangen oder aus dem Ganzen herauszupflücken, genügt ihm die Berührung.“

 
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