Ein Hauch Erinnerung

Reinhold Mißelbeck

Eine Schneelandschaft - Der Himmel in einem weißen Dunst gefangen, ein Stoppelfeld schimmert ockerfarben durch die dünne Schneedecke, mitten im Blickfeld ein Maschengehäuse, zwei gegeneinander geschobene Fußballtore, die eine graue Mülltonne gefangen halten. Daneben ein Häuflein halb verschneiter Holzklötze. Befände sich der Wanderer leibhaftig vor dieser Situation, würde er vermutlich weitergehen und sich dem Zauber der Landschaft widmen. Die obige Beschreibung bezieht sich jedoch nicht auf die Realität, sondern auf eine Photoarbeit von Frank Darius. Dort befindet sich der Torkäfig im Zentrum des Bildes und zwingt uns seine Präsenz auf. Sosehr er jedoch die Integrität der Landschaft, ihre Unberührtheit, ihre Reinheit wie ein Störfaktor unterläuft, so fügt er sich andererseits fast vollkommen in sie. Sein silbriger Rahmen, sein filigranes, grünbläuliches Netzwerk passt sich der Umgebung, der Leichtigkeit der Zeichnung perfekt an und verdeckt gnädig den grauen Klotz der Mülltonne. Konzentrieren wir uns auf das Bild als solches, so ist es abwegig, von einem Störfaktor zu reden. Das Bild in sich ist harmonisch, strahlt fast meditative Ruhe aus.

Was uns nicht gefällt, ist unser Wissen, dass dieses Bild aus einer realen Situation heraus gewonnen wurde; uns stören die Zivilisationsreste in einer anscheinend intakten Natur. Schließlich ärgern wir uns vermutlich, dass wir das vorliegende Bild nichts desto trotz als harmonisch empfinden. Unsere romantische Seele hindert uns am unbeschwerten Genuss des vor uns Befindlichen. Frank Darius’ Photographie - wir werden uns dessen bewusst, sobald wir über die erste Irritation nachzudenken beginnen - ist ein Abbild der Realität und schließlich doch wieder nicht. Die Photographie der Gegenwart, insofern sie sich einer Bildsprache in der Tradition der Becher-Schule bedient, ist ein visuelles Phänomen, das die alte philosophische Problematik der Identität des Nicht-Identischen vor Augen führt. Das Bild ist ein Abbild der Wirklichkeit und ist es letztlich auch wiederum nicht.

Nehmen wir ein anderes Photo: da steht ein Lastwagen neben zwei anderen auf einer nassen Betonpiste, offensichtlich einem Parkplatz. Ist es das, was wir sehen? Das ist es, was wir wissen, wenn wir das Photo genau angeschaut und analysiert haben; wir haben verstanden, was der Photograph als Motiv genommen hat. Wir wissen, was er abgebildet hat. Doch wir sehen etwas anderes: ein in eine Symphonie von Weißtönen getauchtes Bild, das uns fast die Augen blendet, in dem sich quadratische und rechteckige, etwas unterschiedlich getönte Formen abzeichnen, die ihre Schatten auf die darunter befindliche spiegelnde Fläche werfen. Unser Wissen und unser Sehen sind nicht identisch. Beide kollidieren, obwohl sie sich auf dasselbe beziehen. Unsere Wahrnehmung angesichts der vorliegenden Bilder entspricht nicht unserer Erinnerung, die Gegenwart widerspricht der Vergangenheit. Klaus Honnef äußerte sich ähnlich zu den Bildern Axel Hüttes, sie würden dem Betrachter den erwarteten Anblick verweigern, ihn auf sich selbst zurückweisen.[1] Klaus Honnef sprach dort von historischen Blicken und von Perspektive, doch trifft auch für Frank Darius zu, dass er uns zeigt, was wir so zumindest nicht in einem Bild sehen wollen, vielleicht gerade, weil wir ähnliche Inhalte aus eigener Anschauung kennen und sie daher nicht mit Bildwürdigkeit und Ästhetik in Einklang bringen.

Es ist nicht von ungefähr, dass diese Bildsprache gerade in Deutschland ihren Ursprung hat und dass sie auch dort zu ihrer Blüte findet. Von Candida Höfer über Andreas Gursky und Axel Hütte bis zu Boris Becker und Frank Darius führt der Entwicklungsstrang einer Photographie, die am Grundgedanken des »Straight« festhalten will, da dies der Technik im Grunde immanent ist und gleichzeitig der Idee des Visionären näher kommt. Die gesamte Strömung scheinbar dokumentarischer Photographie, die von der Becher Schule ausgelöst wurde, bezieht ihre künstlerische Grundhaltung letztlich aus einem konzeptionellen Ansatz. Er liegt August Sander zugrunde und war die Basis für die künstlerische Anerkennung der ursprünglich dokumentarisch intendierten enzyklopädischen Arbeit von Bernd und Hilla Becher. Mit der sich auf ihrem Werk aufbauenden Tendenz junger Kunst trat die Gegenbewegung zu der früheren technik-kritischen Künstlerphotographie, die in der Opposition zu den technischen Grundregeln des Mediums ihre Ausdrucksmöglichkeiten gesucht hatte, auf. Bei Frank Darius kommt eine romantische Grundhaltung hinzu. Die Begegnungen mit der Wirklichkeit liefern nur die Anlässe für Bilder, die im Grunde von innen kommen. In seinen Photographien finden wir immer wieder den Widerspruch zwischen Natur und den »Resten« der Zivilisation. Jedenfalls stellt sich das in den Arbeiten so dar. Selbst angesichts einer zubetonierten Parkplatzfläche und Monstren von Lastkraftwagen gelingt es ihm, den weißlichen Nebel so dominant werden zu lassen, dass sie in der von ihm erzeugten Stimmung fast verschwinden. Selbst wenn er aus seinem Fenster auf die Berliner S-Bahn und die Bahngleise blickt, entsteht kein Bild von Mietskasernen mit Eisenbahn, sondern eine stimmungsvolle, im leichten Dunst liegende Landschaft, in der durch das Filigran der Bäume schemenhaft Häuser sichtbar sind und ein gelb-roter Streifen im unteren Drittel einen farbigen Akzent setzt. Solche Bilder fügen sich zwanglos in die Reihe der Landschaften ein; auch Stadtlandschaften entfernen sich in dieser Betrachtungsweise radikal von der dokumentarischen Sicht eines Albert Renger-Patzsch, werden zur Projektionsfläche fur Stimmungen und Gefuhle, aber auch fur perfekte Bildästhetik.

Die Bildbeschreibungen machen immer wieder deutlich, dass eines der wichtigsten Bildmittel von Frank Darius das Wetter ist. Während an einem klaren sonnigen Tag alle Gegenstände unserer Umgebung sich klar voneinander abheben und gegeneinander in Konkurrenz treten, vermag leichter Dunst oder Nebel sich wie ein Firnis über die Weit zu legen, Widersprüchliches miteinander zu verbinden und dem Bild seinen eigentlichen Inhalt zu vermitteln. Der Nebel, der Dunst vermittelt nicht nur eine Grundstimmung, er repräsentiert die Natur, die sich selbst gegenüber den Betonburgen trister Vorstadt-Siedlungen durchsetzt. Wo die Romantiker von der »Blauen Stunde« schwärmten, die Landschaften in eine Traumwelt verwandelten, setzt Frank Darius auf das alles durchdringende Grau eines dunstigen und wolkenverhangenen Himmels, ohne jedoch zuzulassen, dass das Bild in Tristesse mutiert. Vielmehr entdeckt Frank Darius in jenen Stimmungen die unendliche Vielfalt feiner Farbabstufungen, spielt mit großer Raffinesse auf einer Klaviatur der leisen Töne pastelliger Farbklänge.

Die Stadtlandschaften, einst von Albert Renger-Patzsch im Ruhrgebiet als Thema entdeckt, haben sich in den siebziger Jahren als Thema der Schwarz-Weiß-Photographie, in den Achtzigern für die Farbphotographie als Thema etabliert. Galt es zunächst noch, die Thematik als solche durchzusetzen, stand für ihre farbige Bearbeitung immer mehr im Vordergrund, den Bildgegenstand einer inhaltlichen und formalen Analyse zu unterwerfen. Ein wesentlicher Aspekt dabei ist die ästhetische Überprüfung unserer urbanen Umgebung, die unter diesem Gesichtspunkt von der Stadtplanung meist nicht oder nur unzureichend kontrolliert wird. Dabei addiert sich nicht selten eine Anhäufung singulärer Hässlichkeiten zu einem Ensemble mit eigenem Reiz. Meist jedoch legen gerade die farbigen Photoarbeiten unbarmherzig die Trostlosigkeit, die »Unwirtlichkeit der Städte« bloß. Chargesheimer hatte als erster im Jahr 1970 mit »Köln 5 Uhr 30« gezeigt, dass diese Verunstaltung der Städte sich nicht auf die Vororte beschränkt. Eine junge Künstlergeneration hat sich seither konsequent mit dieser Problematik auseinandergesetzt und sich dabei der Kamera bedient. Gegen Ende der neunziger Jahre ist dieser thematische Aspekt ausgelotet, gilt es heimisch zu werden: eine Flucht in die unberührte Natur, wie sie hundert Jahre zuvor Künstler wie Caspar David Friedrich vollzogen hatten, ist nicht mehr möglich. Zu total ist die Vereinnahmung der Natur durch den Menschen geworden; bis in den letzten Winkel hat er sie verändert und gestaltet. Der Mensch kann vor sich selbst und seinen Spuren nicht mehr Reißaus nehmen. Mir scheint, als sei die nun etwa zwanzig Jahre währende Auseinandersetzung einer Generation mit diesem Thema eine fast trotzige Reaktion auf diese Erkenntnis. Frank Darius’ Landschaften wären dann der versöhnlich gestimmte Versuch, auch dem hässlichsten Ambiente noch Schönheit abzutrotzen. Indem er gnädig einen Dunstschleier über die Weit legt, der die Konturen abschwächt und die Farben dämpft, zeigt sie sich in ästhetischer Hinsicht erträglich. Und letztlich ist es ein Element der Natur, das dies bewirkt, zumindest kann man es sich einbilden, solange keiner die Schmutzpartikel zählt.

Man könnte sein Konzept als die jüngste Stufe einer Entwicklung ansehen, die Roll Wedewer als »Schwundstufen« in der zunehmend schwieriger werdenden Umsetzung der Idee der Idylle - des Eins-Sein des Menschen mit der reinen Natur - seit dem Beginn des vergangenen Jahrhunderts bezeichnet hatte. »Typische Motivbeispiele solcher Schwundstufen sind Park und Garten. Natürlich lässt sich ihr artifizieller Charakter und somit ihre Wirklichkeit in der Gegenwart nicht übersehen, aber doch werden sie gesehen und verstanden - gewissermaßen als Metaphern der Idylle, mit der sie immerhin noch die betonte Umgrenzung gemeinsam haben. Und doch gelingt die Ausblendung der Realität nur noch unvollständig.«[2] Die Stadtlandschaft ist sicherlich eine weitere Stufe der Ernüchterung, bis in den Bildern der Gegenwart die Realität selbst zum Gegenstand romantischer Projektionen wird. Wo die Flucht aus der Wirklichkeit unmöglich wird, wo die Idylle zum Disneyland entartet ist, bleibt nur noch, es sich in der nackten Wirklichkeit einzurichten und im nebligen Dunst Projektionsflächen der Phantasie zu suchen. So begegnen wir bei Frank Darius Bildern von großer Ästhetik. Wäre es Malerei oder Aquarell, könnten wir uns beruhigt in sie vertiefen. Da es photographische Bilder sind, wissen wir um die Realität, die ihnen zugrunde liegt, und sind beunruhigt. Denn trotz photographischer Abbildung sind Wahrnehmung und Photographie nicht identisch. Dies erinnert an die Erkenntnisse eines Romantikers: »Hat die Natur sich auch verschlechtert, Und nimmt sie Menschenfehler an? Mich dünkt, die Pflanzen und die Tiere, Sie lugen jetzt wie jedermann … Die Wahrheit schwindet von der Erde, Auch mit der Treu ist es vorbei. Die Hunde wedeln noch und stinken Wie sonst, doch sind sie nicht mehr treu.«[3] Heinrich Heine schrieb in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts uber die Entartung der Natur und dichtete ihr bezeichnenderweise menschliche Unarten an. Erst dreißig Jahre später sollte Karl Marx in seinen Grundrissen Arbeit als »Vermenschlichung der Natur« definieren. Heinrich Heine ahnte wohl, dass der Mensch die Natur zum Lugen bringen musse, damit er selbst ihren Verlust nicht mehr wahrnähme. Die Alternative ist, wie Frank Darius es vorfuhrt, die Reste des Naturlichen in der vermenschlichten Natur photographisch sichtbar werden zu lassen. Angesichts dieser Bilder brauchen wir uns nichts mehr vorzulugen.
 
1 Klaus Honnef, Ästhetik des Transit, Die Bilder der Blicke von Axel Hütte, in: Landschaft, Axel Hütte, Bann 1995, S.7
2 Ralf Wedewer, Einleitung: Von der Vorstellung zur Wirklichkeit, in: Die Idylle, Eine Bildform im Wandel, 1750-1930, S.28/29
3 Heinrich Heine, Entartung, in: Gesammelte Werke, Hrsg. Hanns Martin Elster, Gütersloh, o.J. S.309

 
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