„Forget the perfect offering /
There is a crack in everything /
That’s where the light comes in.“
(1)
Andreas Weber

Es kommt häufig vor, dass der Künstler Frank Darius mit seinen Kameras im Nebel kniet. Menschen, die vorüberkommen, fragen dann: „Was machen Sie denn da?“ Zu unspektakulär erscheinen ihnen die Ziele des Objektivs, ja unsichtbar eigentlich, im Dunst aufgelöst, nicht wahrnehmbar. „Ich fotografiere“, könnte Darius antworten, und hätte doch damit gar nichts gesagt. Von einem Fotografen, der die Welt zu sehen begann, indem sie sich verbarg, so könnte die Überschrift dieser Zeilen daher auch lauten. Von einem, der im Schwinden das Sein festhält,fast, als würde es sich erst in diesem Umkehr-Abbild erkennen lassen. Darius sieht auf diese Weise Bilder wie „Untitled I: Botanik“ (2011) aus der Welt hervor: erhoben über das bodenlose Weiß einer leichten Schneedecke, niedergedrückt unter Rauhreifdunst, tanzen die trockenen Stengel eines verblassten Sommers ihr endlos langsames Ballett, an dessen Ende Fülle und Schwelgen und Leben steht. Tod und Sehnsucht nach Sein; Schwinden und sicher aufbrandende Fülle, Verlust und Glück und Glück und Verlust: Das irdische Paradies, das alles enthält, das einzige, das ist.

Wahrheitsgemäß müsste Darius dem Passanten, der ihn in seinem Versteck so unbefangen mit einer Frage bloßstellt, antworten: „Ich suche danach, was Natur wirklich ist.“ Denn das ist, was ihn treibt. Oder anders gesagt: Wie lässt sich begreifen, dass das Paradies zugleich hier ist, obwohl es nicht hier ist? Tiefe – aber zugleich reine Oberfläche? Nur durch eine bestimmte Firnis, so sagt Darius, könne er die Welt klar erblicken: Darum die nebligen Tage, die Szenarios, die in Dunst und Wolken verschwinden und das Gerippe der Wirklichkeit als nichts als ein dünnes Drahtgeflecht zeigen, die gefrorenenen Rispen, die der Eisbelag nachzeichnet wie mit zärtlichen, zerfrorenen Fingerspitzen.

Darius’ Firnis lässt die Welt erstarren – und streichelt sie wie wohlwollende Worte. Darius sieht gleichsam aus den Dingen heraus und durch sie hindurch: Seine Augen werden zu Elementen der Welt, die sich wie ein schützender Film über das eingefangene und zurückgegebene Echo der Gegenstände legen. Das Sichtbare, das sich aus dem Unsichtbaren so vorsichtig abhebt, als wäre bereits das eigentliche Sakrileg zuviel gesehen zu haben, als könnte das rechte Sehen nur unter Schmerzen direkt ins Zentrum vordringen. Dessen innerster Kern enthüllt sich unter diesem negativen Schöpferblick immer wieder als Wesen aus der Natur: Weidenblätter, die aus dem Spiegel eines stillen Wassers geboren werden, Bäume, die sich aus dem Dunst einer Landschaft manifestieren, als wäre jede Landschaft eigentlich ein ungestaltetes Nichts mit dem Potential, beständig zu gebären.

Der oberflächliche Beobachter könnte Darius’ Arbeiten vorschnell als „zu schön“ abtun, als zu gegenständlich, als Kitsch gar. Wer Darius als Romantiker beiseite schieben will, tut aber nicht nur ihm Unrecht, sondern einer bis heute unabgegoltenen Frage, die der Künstler mit einer Intuition wieder aufnimmt, vor deren Radikalität er selbst manches Mal davongelaufen sein muss. Er stellt sich dem Umstand, dass die Dimension des Poetischen in der Welt real vorhanden ist, ja, dass sie diese manchmal geradezu ausfüllt wie eine opake Substanz, weiß wie der Schnee auf dem Bild „Botanik“. Die Welt ist ein Innenraum, der sich als ein unaufhaltsamer poetischer Prozess enthüllt, in den wir und der Künstler besonders verwickelt sind. Aber das Wesen dieses Prozesses besteht darin, dass er ungreifbar ist, hermetisch geschlossen, von uns abgewandt.

Darius dokumentiert die Umkehrspur, die bleibt, wenn wir nicht die üppig kolorierte, vor Massivität und unbedarfter Opazität strotzende Alltagswelt ablichten, sondern dass, was im Prozess des Sehens von ihr gleichsam abgezogen wird. Das, was sich im hellen Sonnenlicht verbirgt und was erst darum das eigentlich Wirkliche ist. Eine von Darius’ fortlaufenden Arbeiten besteht darin, seine benutzten Kameras von einer 30-Tonnen-Presse zusammenstauchen zu lassen, bis sie nur noch zwei Dimensionen haben – und auf dem Stahlstempel das Negativ eines Fotoapparates abgebildet ist. Das Negativ des Blickes, der abbildet, erschafft die Welt erneut.

Es ist eigentlich schon eine „Romantik 2.0“, die Darius für uns erschließt, und sie ist ein nicht nur ästhetisches Konzept für die anstehenden Fragen des 21. Jahrhunderts. Ja, es gibt die poetische Dimension der Welt; und ja, sie ist zugänglich – aber diese Zugänglichkeit ist uns und unserem schöpferischen Sehen geschuldet, und zwar darum, weil wir ein lebendiger Teil dieser lebendigen Welt sind. Sie ist nicht da wie ein Haufen Gold, von dem sich die alten Meister bedienen und die Massen speisen; sie ist nicht abwesend, was man poststrukturalistisch-ironisch feiern müsste, sondern sie ist da als etwas, das erkannt werden muss. Theologisch verklärt könnte man sagen: Das Göttliche ist nicht der Schöpfer, der die Welt beherrscht, aber es ist auch nicht tot, sondern es ist das beständig von uns Erschaffene. In diesem bescheidenen, fast machtlosen Schöpfungsprozess können wir die Welt schön machen – und vielleicht auch besser.

In Darius’ Bildern zeigt sich somit der Hauch einer neuen integrativen Weltsicht jenseits der Spaltung in das nur-Empirische und das Nur-Romantische, die unser ästhetisches Denken für zweihundert Jahre durchzogen hat. Es ist kein Wunder, dass diese Weltsicht in den Formen und Zeichen der Natur präsentiert wird, denn in ihrem Kern steht die Überzeugung, dass diese Wirklichkeit zutiefst lebendig ist, dass aber zugleich diese Lebendigkeit nicht heilenden Balsam darstellt (die schön-kitschige Natur der Romantik-Epigonen und Öko-Heilsbringer), sondern nur in ihrer grundsätzlichen Problematik weltstiftend wird. Wer lebendig ist, muss zwischen Freiheit und Notwendigkeit balancieren, muss ein prekäres Gleichgewicht zwischen Wachstum und Sterben herstellen, sehnt sich nach mehr Sein und ist doch zugleich in jedem Moment schon ganz.i

Diese Position ist das Ende unserer postmodernen Feier der Gebrochenheit. Wir müssen den Bruch nicht mehr inszenieren, denn der Bruch ist in der Wahrnehmung der Welt, in der Lebendigkeit selbst. Der Bruch ist da und ist zugleich immer schon, in jedem Moment, in Poesie überwunden, ohne zu verschwinden. Im Fast-verlöschen erst wird die Faktizität, das dass deutlich, das Wunder, das überhaupt etwas auf der prekären und geborstenen Oberfläche der Welt erscheint und sich behauptet, und nicht nur sich behauptet, sondern zu leuchten vermag. Aber um dieses Leuchten zu sehen, müssen wir loslassen. Sehen, was ist. In aller Tragik sehen, aber sehen. Das ist die Romantik zweiter Ordnung, die das Wirkliche meint und zugleich sein Schwinden mitmeint, ohne darüber zu jammern. Ihr neues, aufklärerisches Porgramm hört nicht mehr auf den Namen „enlightenment“, sondern „enlivenment“, Verlebendigung.(2)

Das Paradies kann demnach nirgendwo anders sein als hier. Es ist greifbar – kein Kindermärchen. Aber es ist auf schmerzliche Weise paradox. Es ist eine Rekonstruktionsaufgabe, beinahe ein politisches Anliegen. Und zugleich ein glückseliges Spiel. Und beides nur zugleich. Es zeigt sich, aber nur im Erblicktwerden. Darius’ Blick enthüllt uns: Natur ist eine verschlossene Oberfläche, in der Tiefe offen. Unendlich strukturiert und fein und chaotisch unerkennbar. Das absolute ästhetische Objekt, aber ästhetisch nicht zu verstehen. Natur ist ein Ort der Vereinzelung. Natur ist der Ort einer Begrüßung in der stummen Form; einer verkörperten Zugehörigkeit.

Das sind sehr melancholische Antworten auf die Frage nach dem Paradies, und manch ein Betrachter könnte der Meinung sein, Darius plädiere für ein abgespaltenes Paradies in analytischer Kühle und Isolation. „Seltsam im Nebel zu wandern / Leben heißt einsam sein“, schreibt Hermann Hesse. Aber es geht nicht um Spaltung, um ein oder. Es geht um das und. Das Paradies ist hier, wir sehen es, aber dieses Paradies ist auch die Eishölle. Das Labyrinth im Nebel. Das Leben ist auch der Tod. Das Poetische ist nicht das, was rettet, sondern das, was um jeden Preis sehen macht. Und besteht dieses Sehen nicht auch darin, dass die fast gestorbenen und doch so zäh überlebenden eisgewandteten Knospen in „Unbetitelt (Botanik)“ auch mich zu sehen vermögen? Meine Erstarrung angesichts mancher Fragen, meine resiliente, zu Tränen rührende Lebenskraft? Die unverständliche Sehnsucht, die endlich von einem stummen Gegenüber entdeckt wird, der sie aufhebt und spiegelt?

Unter der Firnis zeigt sich in Darius’ Blick das eigentliche Mirakel, nämlich dass etwas da ist und nicht nichts. Etwas, welches alle anderen Wunder in sich birgt. Vom Hintergrund des Nichts werden wir aus den Bildern angeschaut. Etwas Ähnliches meint die iranisch-deutsche Künstlerin und Forscherin Pantea Lachin, wenn sie vom „Erweiterten Blick“ spricht.(3) Der erweiterte Blick ist jener Blick, der die Dinge, die Subjekte der Erfahrung sieht, und der in diesem Sehen zulässt, selbst von ihnen angeschaut zu werden. Es ist der schöpferische Blick, der es nötig hat, seinerseits gesehen zu werden, um sein weltstiftendes Potential zu entfalten; der ins Leben rufende Blick, der erkannt sein will, um Leben zu spenden. Jeder Blick, der wirklich sieht, erschafft Welt. Es ist jener wohlwollende Blick, der die Möglichkeit des Paradieses erfasst und dieses darin, und allein darin, wirklich macht.

 

(1) Leonhard Cohen, „The Anthem“.
(2) Weber, Andreas (2007): Alles fühlt. Mensch, Natur und die Revolution der Lebenswissenschaften. Berlin: Berlin-Verlag.
(3) Weber, Andreas (2013): Enlivenment – towards a fundamental shift in the concepts of nature, culture and politics. Berlin: Heinrich-Böll-Stiftung.
(4) Lachin, Pantea (2012): „Social sculpture as magnifying glass to enable an enlarged vision“. Postgraduate Research Application, Oxford Brooks University, unveröffentlicht.

 
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