Das Paradies ist hier

Rede von Petra Lanfermann zu Ausstellungseröffnung

Wenn Sie von draußen in die Galerie hineinschauen, dann entdecken Sie zum einen diese zarten Blätter, die einladen mögen, sie näher zu betrachten. Zum anderen sehen Sie im ersten Fenster eine düster-schöne Landschaft: Nebelschwaden über einer Wiese oder einem Acker, aus dem als einziger Protagonist ein großer Baum auftaucht. Es erscheint uns gerade momentan im grauen Spätherbst ein vertrautes Bild – wenngleich die wenigsten von uns eine konkrete Erinnerung an solch einen Eindruck haben werden. Und doch spricht uns ein solches Bild unmittelbar an – ob seiner poetischen Stimmung.
Und so mag es sich auch bei dem benachbarten Bild verhalten, dem Blick über eine mit Raureif bedeckte herbstliche Landschaft. Unberührt möchte man meinen, kein Mensch ist zu sehen – wenn ich Ihnen jetzt noch sage, dass sich diese vermeintlich einsame Landschaft mitten in Berlin befindet, werden sie entweder den Wahrheitsgehalt meiner Aussage oder die des Fotos in Frage stellen. Und doch: beides ist wahr.

Frank Darius manipuliert seine Fotos nicht, er hat diesen Blick genau so gehabt, es war lediglich schon fast dunkel und er hat überbelichtet. Andernfalls hätte er auch die blaue Tüte rausretouchiert, die inmitten der Natur wie ein Relikt liegt. Der Teufelsberg ist ein Trümmerberg – also nichts natürliches, sondern 26 Mio Kubikmeter Trümmerschutt, die nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1972 hier angehäuft wurden. Bekannt ist das Gelände vielleicht mehr wegen seiner weithin sichtbaren Abhöranlage, die von der amerikanischen NSA betrieben wurde. Der Schuttberg wurde renaturiert und bepflanzt – und ist heute ein beliebtes Naherholungsgebiet, dort kann man spazieren, radeln, klettern, im Winter rodeln und snowboarden.
Nimmt dieses Hintergrundwissen etwas vom Zauber der Fotografie? Wohl kaum. Ein Landschaftsbild funktioniert ohne die konkrete Verortung. Den Romantikern vor 200 Jahren ging es zwar noch um eine Wiedererkennbarkeit der Landschaft, doch mehr noch um eine metaphysische, symbolische Aufladung derselben. Caspar David Friedrich ist nie in die Alpen gereist, hat das Hochgebirge aber voller Sehnsucht und Ehrfurcht gemalt. Mehr noch entstanden (nicht nur seine) romantischen Landschaften in der Abgeschiedenheit des Ateliers, in Abgrenzung zur Außenwelt, die mittels Fensterläden und Tüchern sogar ausgegrenzt wurde. Die romantischen Landschaftsgemälde sind konstruiert und komponiert, deutlich mehr als die Fotografien von Frank Darius. Die Wahrnehmung von Landschaft wird letztlich aus den Bildern geformt, die wir seit Jahrhunderten von ihr zusammentragen. Will sagen: Das Landschaftsbild als solches ist seit jeher eine – großartige – Fiktion gewesen. Romantik meint letztlich eine Gefühlslage, die in Anbetracht der Landschaft entsteht, der subjektiven Wahrnehmung von objektiv Gegebenem, einem Verhältnis von Mensch, Natur und Universum.
Die Landschaftskunst wurde zum sichtbaren Ausdruck des Inneren. Es ging zwar um die Aneignung der Natur, doch stand die Erfahrung in der Natur des Einzelnen im Vordergrund. Die romantische Subjektivierung der Welt ging mit ihrer Poetisierung einher.
Novalis, Ende 18. Jh.: „Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.“

Darius’ einerseits analytischer Blick, mit dem er seine Motive aussucht, und sein andererseits idealisierender Blick, wenn er die Kameraeinstellung wählt und arrangiert, lässt seine geheimnisvoll-entrückten Bilder sehr romantisch erscheinen. Was mich ja dazu leitete, ihn einen Romantiker der Gegenwart zu nennen oder an anderer Stelle wurde er als „Romantiker 2.0“ bezeichnet. Dass Landschaft letztlich immer an die Imaginationen und Assoziationen und Emotionen des Betrachters gekoppelt ist – denn nur so wird aus Natur überhaupt eine Landschaft –, wird in den Fotografien höchstselbst anschaulich.
Dem fotografischen Werk von Frank Darius liegt trotz aller Abstraktionen die Wirklichkeit als zentrale Kategorie zugrunde. Eine Feststellung, die vor dem Hintergrund der aktuellen Potenziale digitaler Bildschöpfungen, nötig ist und so stellen Darius Arbeiten nicht nur eine bemerkenswerte Position im Gefüge aktueller fotografisch-künstlerischer Äußerungen dar, sondern es begegnen sich in Darius Werk vielfältige historische, philosophische, künstlerische und auch technische Aspekte. Darius arbeitet nach wie vor ganz klassisch mit analoger Fotografie, mit Mittel- und Großformatkameras. Der Fotograf Frank Darius geht in vielen seiner Fotografien vielmehr zeichnerisch vor, er printet seine Abzüge auch nicht auf Hochglanzfotopapier, sondern auf Baumwollpapier. Er wendet durch sehr lange Belichtungszeiten und Solarisation – also Überbelichtung – von der Dingwelt abstrahierende, aber nicht manipulierende Praktiken an. Darius zeigt uns in seinen Bildern vermeintlich Vertrautes, und doch drängt sich die Frage auf: Ist das, was wir sehen, wirklich oder verhält es sich ganz anders?
Mittlerweile ist es schon soweit gekommen, dass wir „uns nicht nur an den Fake-Charakter der Fotografien, sondern auch an den Fake-Charakter unserer Wirklichkeit gewöhnt“ haben.

Dazu passend ist der Titel der Ausstellung dort in den Spiegel geritzt. Es ist ein Geschenk von Darius Künstlerfreund Felix Höfner, der dieses moderne Mantra in den Spiegel gekratzt hat: massiv, mit geballter Physis und ich mag mir das Geräusch dabei gar nicht vorstellen, und das der Aussage zunächst einmal zu widersprechen scheint. Doch eben diese punkige Poesie hat Darius gefallen. Auch einem Spiegel sprechen wir einen Wahrheitsgehalt zu – im Spiegel zeigt sich alles ungeschönt – und doch ist ja alles, was wir darin sehen ja zumindest seitenverkehrt. Wir sehen die eingeritzte Schrift – und gehen weiter oder wir sehen auch uns und wir sehen die Umgebung des Ausstellungsraumes. Im besten Falle sehen wir, wie alles mit einbezogen wird, in das Spiegelbild, in die Schrift, Spiegelungen des Selbst in Anbetracht der Worte „Das Paradies ist hier“, Reflektionen nicht nur im optischen Sinne sondern auch insofern, als der Betrachter auf sich selbst zurückgeworfen wird. Ob wir all das wahrnehmen und zulassen liegt an uns selbst – und damit ist dieser Spiegel mit dem Motto auch anleitend für die Ausstellung zu verstehen.
Denn dann werfen wir einen Blick auf die nächsten Bilder: Sehe ich nur das Abgebildete oder nehme ich auch die Leere, das ganze Blatt wahr?
Am Beginn der langen Wand etwa Birkenäste mit ihrer feinen Wasserspiegelung, dort Schilf mit seiner Wiederspiegelung, die kaum voneinander unterscheidbar erscheinen. All das im Nebel aufgenommen, der nicht nur die Pflanzen, sondern auch die Kamera umfing. So reduziert sich das Motiv in den weiteren Arbeiten der Serie zu zarten Notationen auf stillem Weiß.
Eine fast kalligrafische, zeichnerische Ästhetik, die auch die Hopfen-Bilder auszeichnet. Die Rankhilfen und Hopfenreste werden zu einem linearen Geäst, das die Blätter durchstreift und ihnen bei aller Offenheit eine formale Dichte gibt. Die Bilder zeugen eigentlich von etwas gewesenem, wenn sich die Hopfenreste an den Bändern zu stacheldrahtartigen Gebilden formen. Und sie zeugen gleichfalls von etwas wieder Kommenden: Die Rankhilfen werden in der nächsten Saison erneut ihre Funktion erfüllen und der Pflanze Stütze sein und Richtung geben. Diesen tröstlichen Aspekt trägt auch die Botanik-Serie in sich, die Sie hinten sehen: Dünne Halme, zum Teil abgeknickt und verwelkte Blütenstempel – ihre Zeit ist vorbei, wenngleich der Schnee sie noch nicht gänzlich bedeckt hat. Doch sie recken sich auch in alle Himmelsrichtungen, scheinen sich schier unendlich auszudehnen, weit über die Bildgrenzen hinaus. Kein Horizont, der sie oder unseren Blick begrenzt, ein Close-up, ein Ausschnitt von etwas Größerem. Und das meine ich konkret wie auch metaphorisch.
In ihrer sparsamen Motivik und ihrer streng disziplinierten, zurückgenommenen Handschrift bieten seine Fotografien dem Betrachter weite Imaginationsräume. Zwischen Werk und Betrachter bleibt gleichsam eine Folie. Durch die neblige Unschärfe gelingt es Frank Darius, das Naturerlebnis als Wechselspiel zwischen innerer und äußerer Natur zu fassen.

Darius bekannte, dass wenn er sich etwas wünschen dürfte, es die Wiederverzauberung der Welt sei. Er will damit nicht die Uhr zurückdrehen, sondern legt in seinen Fotografien eine poetische Spur als Grundtaktung. Spuren machen neugierig, sie sind Zeichen von Existenz. Spuren verweisen auf ein Davor und Danach. Spuren können leicht übersehen werden – aber auf große Papiere mit viel Weiß, haben sie Raum und die Möglichkeit, sich zu entfalten. Diese Spuren konzentrieren sich auch nicht auf einen Bereich des Blattes oder sind gar zentriert. Vielmehr verweisen sie noch über das Papier hinaus, streben über seine Ränder.
Darius lässt sogar vergleichsweise viele Spuren auf seinen Blättern sprechen, zumal sie sinnlich und bewegt sind und bewegend – wohlklingende, poetisch anmutende Spuren. Denn so „natürlich“ gewachsen die Motive von Darius sind, so durchdacht und kalkuliert sind seine Aufnahmen davon. Und bringen auf den Punkt, was unzählige Worte nur um- oder beschreiben könnten. Die linearen Spuren auf Darius Blättern sind der Wirklichkeit entlehnt und ihrer doch seltsam enthoben: Sinnbildlich stehen sie für abstrakte Denkvorgänge und können ihrerseits Anstöße geben zum Begreifen der uns umgebenden, komplexen Welt.
Es ist dieser Umgang mit dem Vorgefundenen, der Frank Darius und seine Fotografien als Position auszeichnet. Er zeigt uns zwar einen Teil der Wirklichkeit, aber als sehr individuellen Blick und verweigert uns dergestalt eine schnell lesbare Darstellung der Realität. Der Blick des Betrachters wird durch das fotografische Verfahren entschleunigt und macht den visuellen Wanderer in den Bildwelten nachdenken über das, was ihn umgibt. Er zeigt uns hoch ästhetische Bilder, ‚Wirklichkeits-Vorhänge‘, die sich dem Betrachter erst langsam erschließen.

Dass bei allen diesen Fotografien das Weiß eine ganz wichtige Rolle spielt, Teil des Ganzen ist – wurde wohl klar – und ist doch nicht zu überschätzen. Denn unsere Sehgewohnheiten sind ja zunächst einmal so geeicht, hier eine Leere im Sinne des Nicht-gefüllten, nicht gestalteten zu sehen. Denn Sehen und Wahrnehmen gehen bei uns ja immer weniger zusammen. Das Zarte, das Zeichenhafte, das Unscheinbare übersehen wir, angesichts leerer Fläche in einem Bild erfasst uns ganz schnell ein horror vacui. In der fernöstlichen Kunst wird Leere als Form begriffen. Das hat ausgleichende Wirkung, nur im Zusammenspiel kann Vollkommenheit erreicht werden. Das westliche Auge tut sich damit bis heute schwer. Der abendländischen Tradition ist fremd, Reduktion nicht einfach als Weglassen sondern als Besinnung auf das Wesentliche zu verstehen – auf Einfachheit und Ganzheitlichkeit, Konzentration und Ausgeglichenheit.

Darius ist kein Anhänger fernöstlicher Kunst, aber Raum für das Unbekannte bestehen zu lassen, sich von den Dingen dieser Welt von innen her ergreifen zu lassen, statt sie von außen her begreifen zu wollen, ist auch sein Ansinnen. Auch bei Darius herrscht eine „erfüllte Leere“ denn die freie – leere – Blattfläche ist integraler Bestandteil der Bildaussage. Es mag ein Vorteil sein, wenn man weiß, dass es sich um eine Fotografie, noch dazu eine analoge handelt – sich hinter dem Weiß also ein Bildgegenstand befinden muss.
Wenn Sie dann vor dem schlicht „Landschaft“ betitelten Foto – ja auch das ist ein Foto – stehen, was sehen sie? Viele würden spontan Leere sagen oder gar: Nichts. Ja, wenn man nur etwas Hervortretenden, Zugefügtes schaut, sieht man tatsächlich nichts. Es ist auch keine leere Fläche, sondern eine Schneelandschaft: Neuschnee unter Winterhimmel. Überbelichtet. Und dann erkennt man sie: eine ganz klassische Horizontlinie. Und etwas genauer betrachtet, dass diese Linie „natürlich“ ist, keine mit dem Lineal gezogene. Solch ein Landschaftsfoto einzufangen, ohne irgendetwas, kein Vogel, kein Mensch, kein Flugzeug am Himmel etc. ist heutzutage schier unmöglich. Nochmal: Er hat nichts manipuliert: wie er auch sagt „Wo nix ist, war auch nix.“ Es kann uns still machen, wie wir angesichts einer unberührten Schneelandschaft ergriffen sind und der Schnee auch den Lärm schluckt.
Die romantische Weltsicht hat Brüche bekommen – zu recht. Die Beziehung Mensch – Natur ist schwierig geworden, eine tiefe Verbundenheit mit der Natur wie vor 200 Jahren existiert nicht mehr. Zumal wir kaum noch Natur haben! Wir gehen spazieren durch von Menschen gestaltete Parks, an begradigten Flussbetten entlang, durch einen aufgeforsteten Wald oder zwischen Feldern, die bestellt werden. Und doch ist unsere Sehnsucht nach dem heilen, dem Schönen, dem Unberührten in der Natur mindestens so groß wie vor 200 Jahren.
Und ein Sonnenuntergang kann noch genauso kitschig-schön sein wie eh und je, das Glitzern auf der Wasseroberfläche sinnlich und beruhigend, das Tanzen der Schneeflocken wie ein langsames Ballett, das von Fülle und Verlust, von Schwelgen und Schwinden zeugt. Ein Kommen und gehen – die Jahreszeiten sind nach wie vor unser beständigster Begleiter, geben unserem Leben einen Rhythmus. Wenn die Pflanzen welken und das Laub fällt, so haben wir doch das tröstliche Wissen, dass neue Knospen kommen werden, neues Grün, neues Leben. Indem Darius nicht den Frühling sondern den Spätherbst in den Blick nimmt, die abgeernteten Hopfenstengel, die eisersstarrten Knospen und nicht die frischen, wählt er einen vielleicht melancholischen Blick, einen negativen Schöpferblick auf den Garten Eden auf Erden. Ihn treibt Die Suche danach, was Natur wirklich ist, und er braucht diesen Firnis, wie Darius es nennt – Nebel, Dunst, Eisbelag – durch den er die Welt klarer erblicken kann. Und das Poetische in ihr.

Denn – und was gibt es tröstlicheres – das Poetische in der Welt ist ja da – uns fällt es nur zunehmend schwerer, es zu entdecken, uns Zeit zu nehmen, zu betrachten. Aktiv zu betrachten! Denn wir sind es gewohnt, dass eine Bilderflut ständig auf uns einprasselt, wir sind passive Konsumenten. Und je mehr Bilder wir sehen, desto weniger nehmen wir war – Visueller Overkill, könnte man sagen. Da tut eine Entleerung, eine Reduktion aus das wesentliche einfach nur gut. Denn es gibt umso mehr zu entdecken, wahrzunehmen, zu empfinden! Denn wir zappen nicht nur durch das TV-Programm oder das Internet, wir zappen uns durchs Leben – immer schneller, besser, mehr. Dabei ist doch Zeit zu unserem höchsten, weil knappsten Gut geworden. Innehalten, staunen, fühlen. Darius nennt es auch die neue Sehnsucht, sich zu resetten – Pause zu machen, zu entleeren, um Schönheit wieder entdecken zu können. Und dafür müssen wir nicht einmal wie Frank Darius bei unwirtlichem Wetter in der Dämmerung im Nebel stehen, stundenlang frieren um ein Bild wie dieses oder jenes einzufangen. Sondern können uns hier im Warmen aufhalten, uns nur ein bisschen Zeit nehmen und können dennoch die Welt hinter uns lassen, um in diese einzutauchen! Das Paradies ist tatsächlich hier – wir müssen es nur wahrnehmen!

Petra Lanfermann

 
MORE  \/